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Tags: zeitgenössische Literatur, Buchtipps, Buchempfehlung
Autor/in: Caroline Breitfelder
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Auch wenn ich eigentlich eine Verfechterin der Klassiker und erklärtes Fangirl von Dumas, Hesse, Rilke & Co. bin, gibt es auch in der modernen Buchwelt einige neu aufgegangene Sterne am Literaturhimmel, die einen Blick oder auch zwei lohnen. Deshalb will ich ausnahmsweise aus den Tiefen der Vergangenheit auftauchen, mir den Staub vergilbter Wälzer abklopfen, und euch heute ein paar zeitgenössische Vertreter guter Literatur vorstellen.

Martin Suter, Die dunkle Seite des Mondes

Martin Suters Schreibstil ist von nonchalanter Schlichtheit und Leichtigkeit und dabei selten eindeutig. Ja, er schreibt Unterhaltungsliteratur, aber eben verdammt unterhaltende Literatur. Auch in Die dunkle Seite des Mondes klingt sein unbekümmerter, einfacher Schreibstil an, der in die Erzählung (die nicht unbedingt unbekümmert ist) eintauchen und entspannt mitschwimmen lässt.

In dieser speziellen Geschichte, einer seiner frühen Romane (auch zu empfehlen wären an dieser Stelle die späteren Werke Lila, Lila oder Elefant), geht es um den Geschäftsmann Urs, der sein Leben eigentlich im Griff hat, so sollte man meinen. Dann allerdings probiert Urs innerhalb kürzester Zeit verschiedene Dinge aus, die das Leben der meisten Leute aus dem Griff schrauben würden: Drogen, Psychotherapie, Einsiedlertum im Wald, eine Affäre. Für Urs, der zuvor so klar sah, verschwimmen die Grenzen (auch unter dem Einfluss gewisser Pilze) zwischen Schein und Wirklichkeit, Wahn und Realität.

Eindrücklich beschreibt Suter mit philosophischer Grundstimmung die Persönlichkeits-veränderungen eines Mannes, der, in der Midlife-Crisis angekommen, mit seinem Leben nicht mehr zufrieden ist, versucht, sich selbst zu finden, und sich auf diesem Weg zunächst völlig zu verlieren scheint.

Matt Haig, Ich und die Menschen

Ich und die Menschen ist etwas für einen dunklen, regnerischen Tag, an dem man nichts mehr möchte, als sich unter die Decken kuscheln, eine Tasse heiße Schokolade schlürfen und ein Buch lesen, das Tag und Laune wieder ein bisschen erhellt.

Das ist bei Matt Haigs Roman garantiert; das Buch ist einfach, aber schön geschrieben und von erfrischendem Humor. Es geht um eine außerirdische Lebensform, die zu einem bestimmten Zweck auf die Erde geschickt und dazu in einen menschlichen Körper gesteckt wird. In jenem fühlt sich unsere außerirdische Lebensform zunächst deutlich unwohl, denn dieser neue Körper ist schwach, er ist hässlich, er ist schutzlos und wird ständig gebeutelt von den verschiedensten Begierden, Emotionen, Ängsten und sonstigen lästigen Körperfunktionen. Noch schlimmer wird es, als sich der Erdenbesucher unter dem Deckmantel jener Person, in deren Körper er steckt, in Kontakt mit den Menschen kommt, welche den früheren Besitzer des Körpers gekannt haben. Ohne sich verraten zu dürfen, ist der Allbewohner gezwungen, sich mit allem auseinanderzusetzen, was auch uns „Normalos“ das Leben gleichzeitig schöner, spannender und schwerer macht: Freundschaft und Treue, Eifersucht und Trauer, Angst und Wut, Liebe.

Unsere so schöne, so hässliche und so verrückte Welt aus den Augen eines „Fremden“ zu betrachten, ist witzig, traurig und lehrreich zugleich, bringt zum Schmunzeln und zum Nachdenken und eröffnet eine ganz neue Perspektive „von oben“.

Walter Moers, die Stadt der Träumenden Bücher

Walter Moers ist ein Phänomen und ich liebe ihn. So viel voraus. Die Stadt der Träumenden Bücher ist, mehr noch als die anderen Werke Moers‘, eine reine Liebeserklärung an die Literatur, eine Hommage an die Schriftstellerei und eine sprühende Freude für alle Büchernerds da draußen. Ein paar Anleihen aus der Fantasy gibt es hier zwar, betrachtet man die Welt, die Moers in seinen Büchern geschaffen hat, nämlich: Zamonien; aber man kann Moers nicht zur klassischen Fantasy zählen; vielmehr könnte man ihm ein ganz neues Genre widmen.

Es klingt ein wenig verrückt und eigentlich spottet das Buch jeder Inhaltsangabe, aber jedenfalls geht es um einen sprechenden und dichtenden Lindwurm namens Hildegunst von Mythenmetz, der aus der Lindwurmfeste, seiner angestammten Heimat, betört von einem geheimnisvollen Manuskript, nach Buchhaim zieht. Buchhaim ist das Herz der zamonischen Literaturszene und Moers ergeht sich in seitenlanger Beschreibung der Wunder dieser bücherliebenden, bücheratmenden Stadt. Wenn ich mir aussuchen könnte, in welche fiktive Buchszene ich eingesogen werden möchte, ich würde schon lange auf den Straßen Buchhaims wandeln, mit Antiquariatshändlern feilschen und Buchhaims berühmtes Bienenbrot essen, das könnt ihr mir glauben.

Auf der Suche nach dem Verfasser des geheimnisvollen Manuskripts jedenfalls weiß unser gemütlicher Hildegunst nicht, dass er sich mit dem einflussreichen Verbrechertum von Buchhaim anlegt, denn jenes hat einen guten Grund, den Verbleib besagten Schriftstellers geheim halten zu wollen … und zack, wird der neugierige Lindwurm in die Katakomben von Buchhaim eingesperrt, eine Unterwelt, in der es nur so wimmelt von Bücherjägern, Spinxxxen, bücherfressenden Zyklopen, giftigen Büchern – und vor allem: Dort unten haust der Schattenkönig …

Wenn ihr Die Stadt der Träumenden Bücher verschlungen und geliebt haben werdet, wovon ich ausgehe, und Zamonien so schnell nicht wieder verlassen wollt, wovon ich ebenfalls ausgehe, kann ich euch nur wärmstens Die 13 ½ Leben des Käpt‘n Blaubär und Rumo von Moers ans Herz legen.

Daniel Kehlmann, die Vermessung der Welt

Kehlmanns Vermessung der Welt ist zurecht bekannt geworden als eines der besten und erfolgreichsten Werke zeitgenössischer Literatur. „In legendenhafter Schlichtheit“, wie es der Spiegel 2005 schreibt, erzählt Kehlmann mit gekonnt ironischer Distanz die fiktive Doppelbiografie der historischen Personen Carl Friedrich Gauß, Mathematiker, und Alexander von Humboldt, Naturforscher; beide sehr klug, beide etwas bekloppt und beide oft missverstanden.

Wir befinden uns hier im neunzehnten Jahrhundert und begleiten Gauß und Humboldt auf ihren Reisen durch die Abgründe (oder Höhen, jenachdem, wie man zur Mathematik steht) mathematischer Theorie, menschlicher Beziehungen und geographischer Entdeckungen; durch den Dschungel von Ecuador, haarscharf vorbei am Tod und am Wahnsinn, bis hin zum Austausch der beiden berühmten und genialen Sonderlinge, die vieles gemeinsam haben, aber zwei völlig unterschiedliche Wege gehen.

Elfriede Jelinek, Wut

Um sowohl noch eine Dame als auch Vertreterin (unter anderem) der Gattung Dramatik zu Wort kommen zu lassen, sei auf die umstrittene und berühmte Elfriede Jelinek verwiesen. Manche halten sie für genial, andere für obszön; einige für schonungslos ehrlich, andere für blasphemisch. Ob man nun Jelineks Wut oder Die Schutzbefohlenen oder andere Dramen liest: An den Stil muss man sich erstmal gewöhnen; aber wenn man sich gewöhnt, können die Werke eine Goldgrube an denkenswerten Gedanken werden.

Wut ist im Stil eines langen, teilweise wirr anmutenden Monologs geschrieben, in dem sich aber immer wieder geniale Stellen, interessante philosophische, historische und intertextuelle Bezüge und eine gehörige Portion Gesellschaftskritik finden. Jedenfalls gibt das Werk eine Menge Gesprächsstoff her und es lässt sich herrlich darüber streiten.

Es geht dieses Mal um den typischen „Wutbürger“, der seiner Aggression zumindest in Gedanken freien Lauf lässt und um all seine Ängste und Unsicherheiten in der heutigen Zeit, die systematisch zerpflückt wird und deren Facetten von Religion, Konsum, Politik, Nationalismus, Terror und Sexualität in nicht gerade schmeichelhaftem Licht untersucht werden. Es ist zu empfehlen, auch eine Theateraufführung zu besuchen, um zumindest eine mögliche Interpretation der jelinek’schen Textflut vor Augen geführt zu bekommen.

Wem die meist intelligent-kritische und zum Grübeln anregende Postdramatik zusagt, kann sich neben Jelinek auch bei Yael Ronen, Thomas Köck, Maja Zade, Roland Schimmelpfennig oder Sarah Kane bedienen.

 

So, nun sollte für die nächste Quarantäne-Zeit wieder genug Lesestoff vorhanden sein … Viel Spaß!