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Mittelalter & Frühe Neuzeit  

Die Epoche, die wir in diesem Beitrag abdecken möchten, erstreckt sich über Jahrhunderte. Es könnte so viel mehr dazu gesagt werden, aber wir müssen uns hier beschränken und haben das auch getan; nach langer Überlegung legen wir uns schließlich fest auf vier Werke, die stellvertretend stehen sollen für die lange Periode zwischen Spätantike, Mittelalter und Früher Neuzeit – da sie eine solche Bedeutung entfalteten, dass man durchaus sagen kann: Diese Bücher haben die Welt verändert.

Spätantike / Mittelalter: „1001 Nacht“

Ein nächtlicher Hauch streicht durch die Palmen der königlichen Gärten. Grillen zirpen, das Wasser der Springbrunnen plätschert, Maulbeerbäume wiegen sich sanft im Wind. Die Luft ist warm und schwanger von exotischen Wohlgerüchen. Wir befinden uns im Schatten der Bäume, still und unentdeckt. Da! Wir horchen auf, hören Schritte sich nähern auf den verschlungenen Pfaden. Wer kommt da? Wir erblicken die Umrisse einer Gestalt, die rasch näherkommt und erkennen eine Frau von großer Schönheit, mit dunkelseidigem Haar und funkelnden Augen, die gemessenen Schrittes Richtung Palast geht. Sie ist verhüllt in feinstes Tuch und geschmückt mit kostbaren Ketten und Ringen. Ihren größten Schatz jedoch trägt sie in sich: Ihre Klugheit.

Ihr Name ist Scheherazade und sie kommt, ihrem König eine Geschichte zu erzählen, wie sie es jede Nacht tut. Sie wurde auserwählt, für eine Nacht bei dem König zu liegen; jener, einst von seiner Frau betrogen, tötet in glühender Rage bei Morgengrauen jede Frau, mit der er die Nacht verbringt. Scheherazade jedoch kommt nicht zum ersten Mal und sobald die Sonne aufgeht, wird sie denselben Weg wohlbehalten durch die Gärten wieder zurückgehen, denn sie besitzt etwas, das der König nicht aufgeben will: Ihre Geschichten.

1001 Nächte lang erzählt sie dem König von wagemutigen Helden, wunderschönen Königstöchtern, wagemutigen Seefahrern und listigen Dschinn; von Liebe, Leidenschaft, Krieg und Rache – und stets, wenn die Nacht dem Ende zugeht, versteht sie es, die Geschichte an ihrer spannendsten Stelle enden zu lassen, sodass der König unbedingt die Fortsetzung hören muss und ihr für einen weiteren Tag das Leben schenkt … Die schönsten ihrer Geschichten, so berichtet uns die Legende, sind von anonymen Autoren aufgeschrieben worden und liegen uns heute vor unter dem berühmtem Titel „1001 Nacht“.

Wunschlampe

 Dantes „Göttliche Komödie“

Wahrhaft göttlich ist das Werk des italienischen Dichters Dante Alighieri Anfang des 14. Jahrhunderts. Die „Göttliche Komödie“ gilt als das bedeutendste Stück der italienischen Literatur, hat es doch die Volkssprache Italienisch als Schriftsprache erst begründet, durch seinen Rückgriff auf die Antike seinen Teil zur Renaissance in Italien beigetragen und etliche Künstler und Künstlerinnen der folgenden Jahrhunderte inspiriert: Illustrationen und Gemälde, Musik, Bücher natürlich; Skulpturen und Architektur, heute auch Comics, Filme und Computerspiele – zahllose Medien berufen sich auf die Geschichte Dantes, in welcher unser Reisender durch die Jenseitsreiche geführt wird und das Fegefeuer und die Hölle durchquert, bevor er in die Hallen des Garten Edens erreicht. Auf seinem Weg trifft er eine Vielzahl an historischen und mythischen Persönlichkeiten, die Strafe, Buße oder Seligkeit nach dem Tode erleben; so zum Beispiel jene, die der „Wollust“ erlagen und dafür in der Hölle schmoren – wir treffen hier etwa Kleopatra und aus der antiken Dichtung Achilles, Helena, Paris; oder Mörder und Verwüster wie Alexander der Große und Attila, die dazu verdammt sind, für immer in einem Blutstrom zu kochen; desweiteren Verräter, deren Namen Judas oder Brutus und Cassius wir kennen, im ewigen Eis gefangen. Im Paradies trifft der Reisende auf mehrere Heilige der Kirche, darunter Thomas von Aquin, Bonaventura oder der Heilige Petrus.

Faszinierend gerade gemessen am historischen Kontext ist, dass der Reisende bei seiner Fahrt durch die verschiedenen Ebenen der Hölle nicht bloß Verachtung und Wut empfindet beim Anblick der Sünder: Im Gegenteil, er bricht zusammen aus Gram über ihr ewiges, nie endendes und maßloses Leiden und man könnte sich bei der Interpretation fragen, ob er nicht gar Gottes Gerechtigkeit in Frage stellt.

Nicht nur die kunstvolle Sprache, Vielschichtigkeit und enorme Rezeptionsbedeutung dieses Werkes macht es für uns Leser und Leserinnen so wertvoll; es zeigt uns außerdem den theologischen Kosmos jener Zeit auf und die tiefen religiösen Überzeugungen und theologischen Grundfragen, die damals einen Großteil des menschlichen Lebens bestimmten, die detailliert geschildert werden in Dantes „Göttlicher Komödie“ und uns diese vergangenen Zeiten besser verstehen lassen.

Höllenfeuer

Frühe Neuzeit: Shakespeares „Hamlet“

Ah, Shakespeare, the one and only. Es ist und bleibt unglaublich, mit welch kunstvoller Leichtigkeit dieser Dichter mit Sprache umgeht; die Worte sorgfältig auswählt, schleift und zusammenfügt, bis sie ein vollkommenes Kunstwerk der englischen Sprache abgeben, von dem man nur ehrfürchtig den Hut ziehen kann. „Sein oder nicht Sein – das ist hier die Frage“ – dieses epische Zitat stammt aus Shakespeares Feder, die um 1601/1602 das Drama „Hamlet“ auf Papier bannte, welches vom Moment seiner ersten Aufführung an ein Erfolg war – und es blieb bis heute. Die Geschichte des dänischen Prinzen wurde in der literarischen Forschung hundertfach rezipiert, interpretiert und kritisiert; zu kaum einem Stück erscheinen jährlich mehr Beiträge.

Es lässt sich auch viel sagen über die Thematiken in Hamlet: Liebe, Rache, Inzest, Moral und Nicht-Moral. Ein Leben nach dem Tod? Was ist richtig, was ist falsch? Was ist Wahnsinn, was Genie? Sein oder Nicht-Sein? Auf diese Grundfragen unseres Menschentums gibt Shakespeare keine definite Wertung ab und keine Antwort; sondern er stellt sie dem Publikum und lässt es für sich selbst grübeln, hinterfragen und (vielleicht) entscheiden. Hamlet ist einer von Shakespeares eindrücklichsten Charakteren, sein ultimativer Mann der Worte, Mann der Fragen. Er fungiert als Shakespeares Sprachrohr zur Außenwelt und konfrontiert nicht nur Horatio, sondern auch das Publikum mit Problematiken, die sie dazu anregen, sich selbst und ihre bekannte Welt zu hinterfragen. Das macht dieses Stück so besonders und über Jahrhunderte hinweg zeitlos erfolgreich.

Schreibfeder

Frühe Neuzeit 2: Goethes „Die Leiden des jungen Werther“

Nach Shakespeare folgt nun ein weiterer gewichtiger Klassiker, diesmal in deutscher Sprache. 1774 wurde der Briefroman „Die Leiden des jungen Werther“ veröffentlicht – ein großer Erfolg, über Landesgrenzen hinweg. Die Erstausgabe wurde zum Bestseller; Tausende lasen in vielen Sprachen die unglückliche Liebesgeschichte zwischen dem leidenschaftlichen und stürmischen Werther und seiner angebeteten Lotte, die mit dem Selbstmord Werthers endet.

Der emotionale Briefroman in Ich-Form gilt als ein Schlüsselwerk im Sturm und Drang und als Mitauslöser der sogenannten „Lesesucht“ im 18. Jahrhundert. Damit bezeichnet man die Leidenschaft für Bücher, welche das aufstrebende Bürgertum an den Tag legte und damit eine Diskussion um das „richtige“ und „falsche“ Lesen entfachte und darum, welche Bücher man lesen und von welchen man die Finger lassen sollte. Goethes Werk beispielsweise wurde kontrovers diskutiert, da einige eine Selbstmordwelle nach Erscheinen des Buches verzeichnen wollten, angestachelt durch Werthers scheinbar „heroischen“ Verzicht auf das Leben aus verletzten Liebesgefühlen. Andere jedoch bestreiten einen nachweisbaren Zusammenhang. Auch von kirchlicher Seite wurde kritisiert, das Buch sei „unmoralisch“. Die meisten Leser/innen jedoch waren begeistert: Gefühle, Gefühle, Gefühle, in reiner Form, jugendlich-überschwänglich, pathetisch vielleicht, aber: Ehrlich. Wenn man verliebt ist, dann ist nun mal jede Geste, jede Hoffnung und jede Enttäuschung ein Drama für sich.

Jedenfalls: Die Wirkung dieses kleinen Büchleins war riesengroß. Und man mag von Goethe halten, was man will: Schreiben konnte der Mann. Bis heute sind „Die Leiden des jungen Werther“ vielfach gelesen und rezipiert worden und sprechen noch immer das Herz (nicht nur leidender) Liebender an.

Herz aus Buchseiten

Kleiner Ausblick

Wir sind noch lange nicht fertig! Nächste Woche geht es weiter mit Episode 3 der Reihe „Bücher, die die Welt verändert haben“ und wir werden uns Bücher aus dem 19. Jahrhundert genauer ansehen, in welchem Künstler/innen wie Tolstoi, Flaubert oder Jane Austen geschrieben haben, um nur einen kleinen Vorgeschmack zu geben … also bis bald!