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Das 19. Jahrhundert 

Willkommen im 19. Jahrhundert! In der letzen Episode glitten wir gemächlich vom Mittelalter in die Frühe Neuzeit und gehen nun einen Schritt weiter, in das 19. Jahrhundert, in dem es von genialen Schriftsteller/innen und herz-, hirn- und weltbewegenden Werken nur so wimmelt … die Auswahl fiel nicht leicht, das könnt ihr mir glauben, und die folgende Auswahl erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, aber hier ist sie und stellt euch ein paar der bedeutendsten und lesenswertesten Bücher des 19. Jahrhunderts vor:

Charlotte Brontë, „Jane Eyre“

Wenn meine Schwester vor einer schwierigen emotionalen Entscheidung steht, dann fragt sie sich: „Was würde Jane Eyre tun?“ Der Hashtag #janeeyre ist bei uns beiden schon zu einer Art Insider geworden, genutzt dann, wenn man mit Würde und moralischer Integrität „das Richtige“ über die eigenen egoistischen Motive und Wünsche stellt.

Diese (seltene) Verhaltensweise nämlich zeichnet die Protagonistin Jane Eyre in Charlotte Brontës unter einem Pseudonym herausgegebenen englischen Meisterwerk aus: Eine kleine, dünne und blässliche Gouvernante, die zuerst nicht so wirkt, als könnte sie die Heldin in einer Geschichte spielen. Von dem unscheinbaren Äußeren aber sollte man sich nicht täuschen lassen. Wie eine kleine Löwin kämpft die Waise Jane Eyre, Heldin des gleichnamigen viktorianischen Romans, um ihre Selbstbestimmung und ihren Selbstwert.

Nach einer schweren Kindheit, in der Jane wenig Zuneigung und Gerechtigkeit erfährt, kommt sie als Gouvernante in das Haus Thornfield, in welchem der Hausherr Mr. Rochester, ein reicher Einsiedler und Exzentriker, mit seiner kleinen Tochter Adèle haust. In Thornfield warten Umbrüche auf Jane: Konflikte um Klassen- und Geschlechterunterschiede; ein liebes, aber verwöhntes Mädchen, welchem sie Bildung näherbringen soll; nur allzu menschliche und rachsüchtige Geister; Liebe und Versuchung.

Eines aber bleibt: Mit eisernem Willen hält Jane an ihren Werten fest, auch wenn der Reiz, die eigenen Grenzen ein bisschen zu verschieben, übergroß ist und auch dann, wenn die Gesellschaft (und die Männer) von ihr etwas anderes erwarten. Das hat ihr nicht nur einen Platz in den Entscheidungshilfen meiner Schwester verschafft, sondern auch einen Platz in unserer Liste.

Harriet Beecher Stowe, „Uncle Tom‘s Cabin“

Veröffentlicht 1852 brachte Harriet Beecher Stowes Werk „Uncle Tom’s Cabin“ ein Thema auf den Tisch, das viel zu lange verdrängt wurde und auch heute noch von großer Bedeutung ist: Rassismus – und damit einhergehend die Sklaverei in den Vereinigten Staaten. Es wird gesagt, dass der damalige Bestseller (der erste in so großen Kreisen gelesene politische Roman in Amerika) mit ein Katalysator war für den amerikanischen Bürgerkrieg zwischen Nord- und Südstaaten, in dem es auch um die Abschaffung der Sklaverei ging. Verfechter der Sklaverei empörten sich über das Werk und nannten es eine Anhäufung von Lügen; Gegner der Versklavung jedoch bekamen dadurch neuen Auftrieb und ihre Wut über die unmenschliche Behandlung von afroamerikanischen Mitmenschen gewann neue Kraft und Unterstützung.

Die Haupthandlung: Tom, ein Sklave in Kentucky, wird von seinem ersten „Herren“, Mr. Shelby, vergleichsweise gut behandelt. Tom ist bekennender Christ (Stowe selbst war sehr religiös) und eine Vorbildfigur für die anderen Sklaven. Aus Geldmangel jedoch muss er verkauft werden und gerät nach einer Weile in die Hände von Mr. Legree, der eine Baumwollplantage und keinerlei Menschlichkeit mehr besitzt, und der seine Untergebenen mit unsagbarer Grausamkeit behandelt.

Stowes Buch beschreibt die schonungslose Realität der Sklaverei eindrücklich. Als Quelle dienten ihr dabei die Memoiren eines geflohenen Sklaven, Josiah Henson, der 1830 nach Kanada entkam. Ohne Kritik blieb ihr Werk allerdings nicht; vor allem in den USA wird die als zu unterwürfig erlebte Darstellung der Sklaven in der Geschichte mittlerweile stark kritisiert und „Uncle Tom“ ist in den USA ein Schimpfwort. Nichtsdestotrotz hatte das Buch von Stowe einen fundamentalen Einfluss auf die amerikanische Gesellschaft und wirkte mit ein auf die schlussendliche Abschaffung der Sklaverei.

Jane Austen, „Pride & Prejudice“

„In der ganzen Welt gilt es als ausgemachte Wahrheit, dass ein begüterter Junggeselle unbedingt nach einer Frau Ausschau halten muss…“ Dieser berühmte erste Satz springt ins Auge, wenn man den bekanntesten Roman der Britin Jane Austen öffnet. Was folgt: Eine Geschichte über Liebe und Missverständnis; Gesellschafssatire in feiner, intelligenter Ironie geschrieben; Entwicklung und Erkenntnisgewinn (oder deren Ausbleiben) der Protagonist/innen; Status und gesellschaftliche Konventionen; Familie und alles, was das so mit sich bringt; und der unverkennbare Stil Jane Austens, mit ihrem Gespür für all die komischen Eigenheiten, Stärken und Schwächen, die uns Menschen ausmachen. Vor allem das ist wohl der Grund für die Zeitlosigkeit ihrer Bücher.

Ich habe „Pride and Prejudice“ schon zig-mal gelesen, immer mit einem Schmunzeln in den Mundwinkeln. Schon 1813, als das Werk (zunächst anonym) veröffentlicht wurde, war es ein schlagender Erfolg: Unterhaltsam, ironisch-intelligent, romantisch, aber nicht kitschig. Auch heute noch wird das Buch immer wieder neu übersetzt und herausgebracht, vertont oder mit internationalen Stars auf Film gebannt.

Jene spielen dann das Leben der fünf Bennet-Schwestern nach, die sehr unterschiedliche Ansätze verfolgen, sich ihren Platz im Leben (und einen begüterten Junggesellen?) zu ergattern; allen voran die Protagonistin Elisabeth Bennet, die auf begüterte Junggesellen (zunächst) pfeift und lernt, dass erste Eindrücke sowie die eigene, hochgehaltene Intelligenz trügerisch sein können und es sich lohnt, zweimal hinzusehen.

Leo Tolstoi, „Krieg und Frieden“

„Krieg und Frieden“ (Originaltitel: Война и миръ), geschrieben von dem russischen Schriftsteller Leo Tolstoi, ist ein historischer Roman des 19. Jahrhunderts. Für alle, die das für langweilig halten: Halt Stopp. Oben erst haben wir gelernt, zweimal hinzusehen. So auch hier: Ist etwa die napoleonische Ära langweilig? Der langjährige Krieg zwischen Frankreich und Russland? Ein Einblick in die russische Seele? Sind Tod, Leid und Kampf zum Gähnen? Vaterlandstreue, Heldenmut und Angst ermüdend? Liebe, Eifersucht, Betrug und Treue ohne Spannung? – Wohl kaum!

Schon der Stil ist eine Besonderheit: Tolstoi schreibt in der sogenannten „Montagetechnik“, damals noch eine relativ neue Errungenschaft der Schriftstellerei. Das heißt, er betrachtet das historische Geschehen aus unterschiedlichen Perspektiven und mit unterschiedlichem Stil; so wechseln sich detaillierte militärisch-politische Beschreibungen ab mit romantischen und glühenden Liebesmomenten, gesellschaftskritischen Beobachtungen oder fesselnden Kampfszenen. So haben wir beispielsweise den stolzen und tapferen Fürsten Andrej Bolkonskij, der zahlreiche Schlachten kämpft; seinen ihm sehr unähnlichen und bärenhaft-tollpatschigen Freund Pierre, der seinen Mut erst noch finden muss; seine religiöse und standhafte Schwester Marja;  die junge und naiv-fröhliche Natascha Rostow, in die Andrej sich verliebt – und damit sind nur ein paar genannt. (Tatsächlich würde ich zur Lektüre eine Namensliste empfehlen; man kommt schon nach einigen Seiten durcheinander, vor allem bei den ganzen russischen Koseformen, die zwar schön, aber ultimativ verwirrend sind.)

Diese verschiedenen Blickwinkel und Schreibweisen, die das umfangreiche Werk Tolstois in sich vereint, bringen es der vielschichtigen Realität und uns damit der bewegten Zeit vor zweihundert Jahren umso näher.

Bücher, die die Welt verändert haben: Man kann nie genug haben

Die oben genannten Bücher haben alle auf ihre Weise die (Literatur-)Welt verändert, ob nun durch Stil, Thematik oder Gesellschaftskritik – oder dadurch, dass der weibliche Blickwinkel auf die Welt präsenter wurde. Aber (als Fan der Literatur des 19. Jahrhunderts) kann ich nur sagen: Da gab es noch einige Kunstwerke mehr. George Eliots „Middlemarch“ zum Beispiel, Flauberts „Madame Bovary“, Charles Dickens‘ großartige Bücher, Shelleys „Frankenstein“, oder „Les Misérables“ von Victor Hugo, um nur ein paar zu nennen – ebenfalls weltbewegende (und einfach gute) Literatur, die es sich lohnt, (mehrmals) zu lesen.